Stille Flügel, leiser Dank

Ein japanisches Märchen - Tsuru no Ongaeshi – Der Dank des Kranichs
Als Kind habe ich die japanische Folklore „Tsuru no Ongaeshi (Der Dank des Kranichs)" oft vorgelesen bekommen. Ich mochte diese Geschichte sehr – obwohl, oder vielleicht gerade weil, sie so traurig ist. Immer wieder habe ich dabei geweint. Doch etwas in ihr hat mich tief berührt, und bis heute begleitet mich dieses Märchen: seine leise Melancholie, seine schlichte Schönheit – und die Botschaft, die darin verborgen liegt.
Diese Geschichte möchte ich heute mit Ihnen teilen:
Es war einmal ein armer junger Mann, der allein in einer kleinen Hütte am Waldrand lebte. Eines Winterabends, als der Schnee leise vom Himmel fiel, fand er auf dem Heimweg einen Kranich, der sich in einer Falle verfangen hatte. Ohne zu zögern befreite er das verletzte Tier, das ihn mit sanften Augen ansah und dann langsam davonflog.
Am nächsten Tag klopfte es leise an seiner Tür. Draußen stand ein junges, wunderschönes Mädchen, das behauptete, sich verirrt zu haben. Er bot ihr Unterschlupf an, und sie blieb. Die Tage wurden heller, die Winterkälte weniger spürbar, und bald lebten die beiden zusammen wie ein Ehepaar – in stiller Harmonie und gegenseitigem Respekt.
Eines Tages bat das Mädchen ihn: „Bitte, lass mich für dich etwas weben. Aber du darfst währenddessen nicht in den Raum schauen.“ Der junge Mann versprach es, und sie schloss sich ein. Tagelang hörte man nur das gleichmässige Geräusch des Webstuhls. Als sie schliesslich wieder herauskam, überreichte sie ihm ein wunderbares, zartes Tuch – leicht wie eine Feder, fein wie Morgendunst. Er brachte es zum Markt, wo es für viel Geld verkauft wurde.
Doch bald bat sie darum, ein weiteres Tuch weben zu dürfen – unter derselben Bedingung. Wieder hörte man das Klackern des Webstuhls, diesmal schwächer. Die Sorge des Mannes wuchs. Als er es nicht länger aushielt, warf er doch einen Blick durch die Tür – und sah keinen Menschen, sondern einen Kranich, der sich mit blutenden Flügeln selbst die Federn ausriss, um daraus das Tuch zu weben.
Als sie ihn entdeckte, wusste sie, dass sie gehen musste. Ihre Gestalt verwandelte sich zurück in den Kranich, der einst von ihm gerettet worden war. Mit traurigem Blick sagte sie leise: „Ich wollte dir danken – doch nun, da du mein Geheimnis kennst, muss ich fort.“ Und mit schweren Flügelschlägen erhob sie sich in den Himmel und verschwand für immer im Schneegestöber.
Ein leiser Gedanke zum Schluss
Vielleicht berührt mich diese Geschichte auch heute noch so sehr, weil sie auf stille Weise zeigt, was es bedeutet, aus tiefster Dankbarkeit zu handeln – ohne Worte, ohne Erwartung. Der Kranich gibt alles, was er hat, einfach weil ihm einst jemand Gutes getan hat.
Gerade diese Form von Dankbarkeit, die verborgen im Verborgenen wirkt, ohne sich je in den Vordergrund zu drängen, empfinde ich als sehr japanisch – oder vielleicht eher als tief bescheiden.
Es ist eine Art von Geben, bei dem keine Gegenleistung erwartet wird – ein selbstloses Mitgefühl.